Bahro-Prozess
Immer mit dem Blick aufs Ganze: Rudolf Bahro 1987. Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Kammerhuber, Gerhard / Com_L36-0215-0001-0002 / CC BY-SA 4.0

DDR-Dissident: Der Bahro-Prozess 1978

Wegen eines Buchs verurteilt – und am Ende hat er dennoch gewonnen

Er wurde vom Stalinisten zum schärfsten Kritiker der DDR-Altherrenriege. Mit den Repressionen gegen Rudolf Bahro wuchs der Widerstand. Später entwickelte sich Bahro zum einsamen Propheten einer ökospirituellen Rettung der Menschheit, da die Grünen ihm im Kampf gegen die „industrielle Megamaschine“ nicht radikal genug waren. Er sah sie eher auf dem Weg in eine Öko-Diktatur.

Der 1935 in Niederschlesien geborene Rudolf Bahro war einer der agilsten deutschen Denker des 20. Jahrhunderts. Es begann mit einem Trauma: Seine Mutter und seine beiden Geschwister starben bei der Vertreibung aus Schlesien an Hungertyphus. Bedingungslos setzte er seine Hoffnung in den neuen Staat, die DDR, sowie in die SED, der er 1954 beitrat. Ein Musterfunktionär schien heranzuwachsen, der das Abitur mit Auszeichnung bestand, an der Humboldt-Universität in Ostberlin Philosophie studierte und danach im Oderbruch eine Dorfzeitung herausgab, in der er die Bauern zum Eintritt in die LPG agitierte. Doch sein scharfer Verstand zwang ihn stets, unbequeme Fragen zu stellen.

Als stellvertretender Chefredakteur der Studentenzeitschrift Forum wurde er 1967 seines Postens enthoben, nachdem er ohne Genehmigung ein Stück des Dramatikers Volker Braun abgedruckt hatte. Im gleichen Jahr schickte er Walter Ulbricht eine neunseitige Ursachenanalyse für die schwache Industrieproduktion des Arbeiter- und Bauernstaates. Die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings erschütterte ihn bis ins Mark. Als 1975 seine geplante Dissertation durch zwei von der Stasi bestellte Gutachten vereitelt wurde, beschloss er, konspirativ an seinem Reformkonzept für die DDR weiterzuarbeiten. Tagsüber verrichtete er seinen Dienst im Gummiwerk Berlin, in den Nächten schrieb er an seinem großen Manuskript mit dem Titel „Die Alternative“. „Das trifft den Parteiapparat ins Herz“, stellte der „Spiegel“ fest, als er im August 1977 erste Auszüge veröffentlichte. Schneller als der Westen war die Stasi über das Buch im Bilde – dank Bahros Ex-Frau. Es war eine auf marxistischer Grundlage verfasste scharfe Abrechnung mit den systembedingten Produktivitätsdefiziten der großen Betriebe. Bahro forderte Basisdemokratie.

Die Staatsführung konterte mit einem Geheimprozess. Weil die Anklage wegen Verfassens eines Buches, in dem Marx und Engels zitiert wurden, unvorteilhaft erschien, warf man Bahro Geheimnisverrat an seinem Arbeitsplatz vor, was dem Prozess die politische Note nehmen sollte. Durch die Verkündung des Urteils wurde der Fall publik. Der Mehrheit der DDR-Bürger war klar, dass hier ein politischer Dissident vor den Kadi gezerrt worden war. Die DDR-Generalstaatsanwaltschaft hatte Gutachten von prominenten DDR-Intellektuellen eingeholt. Bahro wusste mit Gregor Gysi den damaligen DDR-Staranwalt an seiner Seite. Dieser behauptete später, er habe auf Freispruch plädiert, was durch die mittlerweile veröffentlichten Prozessakten nicht gedeckt wird. Zumindest wollte Gysi für Bahro eine wesentlich geringere Haftstrafe als die von der Staatsanwaltschaft vorgesehene herausholen. Jedenfalls blieb das Verhältnis Gysis zu seinem früheren Mandanten bis zu dessen frühem Tod im Jahr 1997 gut, obwohl es immer wieder Spekulationen darüber gab, dass Gysi seinen Mandanten verraten habe. Am Ende wurde der Dissident im Juni 1978 zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt, die von Beginn des Prozesses an feststand.

Während seiner Haftzeit in der Sonderhaftanstalt Bautzen II ging Bahro oft bis an seine körperlichen Grenzen, doch er stand Hungerstreik und Zwangsernährung durch. Vordergründig schien das Honecker-Regime sich mit der Inhaftierung des unorthodoxen Marxisten durchgesetzt zu haben, doch der Flurschaden für das Renommee der DDR war gewaltig. Die westdeutsche Linke, die in allen größeren Städten „Bahro-Komitees“ gründete, thematisierte erstmals massiv die himmelschreiende politische Unterdrückung im SED-Staat. Der Druck zeigte Wirkung: Nach nur gut einem Jahr in der MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II wurde dem prominenten Gefangenen im Oktober 1979 die Übersiedlung in die Bundesrepublik gestattet. Aus heutiger Sicht erscheinen die Verurteilung von Rudolf Bahro wie auch die Aussiedlung von Wolf Biermann 1976 als Anfang vom Ende der DDR. Diese beiden Ereignisse machten im Westen wie im Osten vielen Menschen klar, dass es in der DDR keine kulturellen, politischen und intellektuellen Freiheiten abseits der Dogmen der Parteidiktatur gab.

Auch im Westen büßte Bahro nichts von seiner Klarsicht ein. Er schloss sich den Grünen an, warf aber 1984 in seiner „Hamburger Rede“ den „Realos“ um Joschka Fischer vor, sie würden aus Machtgier eine Situation anstreben, die zu Bürgerkrieg und einer anschließenden Diktatur führen würde.

Im Sommer 1985 trat Bahro aus der Partei aus und konzentrierte sich auf die Arbeit am neuen Buch, das 1987 unter dem Titel „Logik der Rettung“ erschien. Wenn der Untergang der Menschheit abgewendet werden solle, müsse ein „Bewusstseinssprung“ eintreten. Notwendig seien eine radikale Umkehr und ein Ausstieg aus der industriellen „Megamaschine“. Es komme darauf an, eine entsprechende „Rettungspolitik“ in die Wege zu leiten, bevor die sich zuspitzende ökologische Krise zu einem Notstand und damit zwangsläufig zu einer Notstandsregierung führe. Brauchbare Ansätze zu einer entsprechenden Politik erwartete er eher aus konservativen als aus linken Kreisen, wobei er insbesondere auf den CDU-Politiker und Wachstumskritiker Kurt Biedenkopf Bezug nahm. 1989 zog Bahro zurück nach Berlin. Er setzte sich für eine Autonomie der DDR und die Beibehaltung des Primats der Politik über die Wirtschaft ein. An der Humboldt-Universität baute Bahro eine neue, interdisziplinäre ökologische Forschung auf. Aus einem Gespräch mit Biedenkopf 1991 entstand das sozialökologische Zukunftsforschungsprojekt LebensGut in Pommritz bei Bautzen, das heute insbesondere durch Bahros einstigen wissenschaftlichen Mitarbeiter Maik Hosang weitergeführt wird.

Auch am Ende stand ein Trauma: Bahros Ehefrau Beatrice nahm sich nach einem Streit das Leben, was Bahro selbst für die Ursache seiner folgenden Erkrankung an einer seltenen Form von Leukämie hielt. Untersuchungen ergaben allerdings, dass das Ministerium für Staatssicherheit Bahros Manuskripte radioaktiv kontaminiert hatte.

■ Arne Schimmer

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