Volker Zierke und Philip Stein beim "Jungeuropa"-Lesertreffen 2025. Foto: Privat.

Der neue Zierke: Nihilistisch und zugleich erbauend

Volker Zierkes „Herrengedeck“ ist ein Ereignis

Volker Zierke webt weiter an seinem zwielichtigen Kosmos der Illusionen und ihrer Überwindung: introspektiv, gallig, unerbittlich ehrlich. Herrengedeck ist kein Hohelied des „Machbaren“ – sondern ein kalter Blick in und auf das nichtige Leben im falschen. Ein Roman über die große Suche im kleinen Rahmen einer ganz besonderen Stadt, über das Verharren und Weitermachen in einer Welt, die grenzenlos, formlos und sinnlos geworden zu sein scheint. HIER zu bestellen!

„Das Schimpfen wird in die Welt hinausgeschleudert; und da nur der Mensch zu schimpfen vermag – dies ist ja sein Vorrecht, das ihn von allen anderen Geschöpfen unterscheidet –, erreicht er vielleicht schon mit einem einzigen Schimpfwort sein Ziel: die Gewissheit, dass er ein Mensch ist und keine Klaviertaste.“ Solche, für Dostojewski typischen, paradoxen Sentenzen dürften der Heldin von Zierkes neuem Roman „Herrengedeck“ vertraut sein, denn ihr Regal ist dicht gefüllt mit russischer Klassik.

Auch der Buchrücken der „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ bleibt dem aufmerksamen Leser nicht verborgen. In diesen Aufzeichnungen begegnet ein Nihilist einer gefallenen Christin, deren Sturz ins Sündige den Glauben nur heller aufflammen lässt. Zwischen ihren sündhaften Akten diskutiert sie über Christus, Revolution, die ewigen Fragen der menschlichen Existenz und all das, was einem Außenseiter in Zeiten des Umbruchs auf die Nerven geht – oder ihm endlich eine Antwort schenkt.

Liebesdienst an die Sinne, Freude am Handwerk

Besonders im Theater zeigt sich, wie schwer sich die Klassiker aus dem Schulprogramm heute tun: Die Geschlechterkonflikte vergangener Jahrhunderte wirken auf das heutige Publikum fremd, oft unverständlich. Heute wird Sexualität lockerer gehandhabt – zumindest noch; ob die nächste Generation diesen Kurs hält, ist ungewiss. Dennoch erklingen die alten Saiten der Klassiker immer noch, besonders dort, wo Volker Zierke die neuen Konservativen ausmacht: in ihrem Milieu, das alte Ideale und neue Frustrationen gleichermaßen reflektiert. Auch das leinengebundene Bändchen selbst – mit Siebdruck versehen und von handgezeichneten Grafikelementen durchzogen – atmet den Geist einer Epoche, in der Dinge noch echt waren. Wer die typografische Raffinesse und die gestalterische Ästhetik des „Jungeuropa“-Verlags zu schätzen weiß, wird beim „Herrengedeck“ auf seine Kosten kommen. Das Buch ist nicht nur Text, sondern Objekt, Liebesdienst an die Sinne, ein Sinnbild für die Freude am Handwerk, die im heutigen Digitalzeitalter selten geworden ist.

Der Romanheld ist ein überaus witziger Typ. Ein Scherz, der fast zynisch wie bei Céline wird, verliert jedoch an Biss, sobald die Handlung in lyrische Beschreibungen Dresdens und der sächsischen Landschaft übergeht – ganz im Stil der ehrwürdigen deutschen dunklen Romantik. Hier tastet sich der Text mit seltener Präzision an die urbane Poetik heran und wird fast zu einer Hymne auf die Stadt, auf ihre Straßen, ihre Kneipen und Paläste, ihre geheimen Winkel. Indem Volker Zierke den Stilbruch stilprägend einsetzt, entsteht der „Herrengedeck“-Effekt: wie Bier mit Schnaps. Eine Erzählweise hebt ab, die andere fällt tot um. Gedanken wirbeln rückwärts, die Handlung schlägt Kreise. Der Leser wird zugleich verwirrt und belohnt – wie bei einem guten, kleinen Betrug des Autors, den man gern mitmacht.

Husten des Protagonisten, schwarzer Schleim – die Krankheit meldet sich. Sein Nihilismus, als Entwertung des Höchsten verstanden, bleibt anfangs unscheinbar, erweist sich jedoch als krankhafter Übergangszustand. Das unaufhörliche Schimpfen richtet sich gegen die hohlen Formen von Religiosität, die gegenwärtige Politik und all jene leeren Menschen, die den Erzähler umgeben. Vielleicht ist es genau diese morbide Negativität, dieses beständige Schimpfen, das den Romanhelden menschlich macht – und verhindert, dass er zur „Klaviertaste“, zum bloßen Funktionselement eines toten Systems, wird. Bücher taugen den Romanfiguren gerade noch, um sich damit zu bewerfen; die Kunst ist schwul, die Parteipolitik ein Selbstbedienungsladen, und die Religion… Finden sie das Heil nicht? Ich sehe das anders! Die Freude am Suchen und Finden möchte ich dem Leser nicht durch mein Spoilen nehmen. Am Ende bleibt ein hochinteressanter, deutscher Roman: zeitgenössisch und zugleich traditionsbewusst, nihilistisch und zugleich erbauend – eine unverschämte Dialektik, die man nur selten in solcher Klarheit und Wucht liest.

Volker Zierke: Herrengedeck, Jungeuropa Verlag, 292 Seiten, 22,00 €, 272 Seiten, gebunden, Leinen, mit Lesebändchen, 25 Euro. Hier zu bestellen.

 Ilia Ryvkin

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