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Vor 40 Jahren, am 9. März 1980 fällt noch einmal dichter Schneeregen über Karl-Marx-Stadt, das heute längst wieder Chemnitz heißt. Der Himmel hängt schwer und tief über der Stadt, während die Flocken in den gelben Schein der Straßenlaternen fallen. Die Plattenbauten entlang der Straße glänzen feucht, und aus den wenigen Schaufenstern der Kaufhalle und des Konsums dringt trübes Licht. Die Straßen sind menschenleer, da an diesem Abend der „Polizeiruf 110“ läuft, zu DDR-Zeiten ein Straßenfeger mit atemberaubend hohen Einschaltquoten.
Josef Kneifel, ein gelernter Dreher, der schon einige Jahre als politischer Häftling einsaß, nähert sich in seinem aschgrauen Trabant dem sowjetischen Panzerdenkmal. Dieses steht an der Ecke Frankenberger Straße/Dresdner Straße, trägt den Namen „Mahnmal 8. Mai 1945“ und besteht aus einem auf einen Sockel gehievten Panzer vom Typ T-34, dem bekanntesten sowjetischen Modell des Zweiten Weltkriegs. Das Rohr des Kettenfahrzeugs deutet in Richtung Innenstadt, auch das kann man als Machtdemonstration verstehen.
Schicksalssymphonie im Kopf
In Kneifels Kopf kreist eine Melodie, als er sich dem stählernen Ungetüm nähert. Es ist der erste Satz der fünften Symphonie Beethovens, der „Schicksalssymphonie“. Er weiß, dass es nun um nicht weniger als seinen Kopf geht. Er krabbelt unter den Panzer und macht die mitgeführte und unter der Anleitung eines Komplizen zusammengebastelte Elf-Kilo-Bombe scharf. Dann schlendert er gelassen zu seinem Auto zurück, die Witterung bietet ihm bestmöglichen Schutz. Dann gibt es einen gewaltigen Schlag, eine markerschütternde Detonation ist zu hören. Die Fensterscheiben der Nachbarhäuser gehen zu Bruch und ein 250 Kilogramm schweres Rad wird in den Hof der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei geschleudert. Obwohl der Panzer insgesamt nicht schwer oder irreparabel beschädigt ist, wird diese Tat doch als Fanal und absoluter politischer Tabubruch verstanden – also ganz im Sinne Josef Kneifels. Dessen Zorn über den einige Wochen zuvor erfolgten Einmarsch der Roten Armee nach Afghanistan war der letzte Auslöser zur Begehung dieser Tat, die in der gesamten DDR-Geschichte völlig ohne Beispiel dasteht.

Natürlich darf in den DDR-Medien kein einziger Satz über das Attentat erscheinen. Am Ende erweist sich die Flüsterpropaganda aber stärker als jede kommunistische Zensur, die Panzersprengung von Karl-Marx-Stadt wird Thema in unzähligen privaten Gesprächsrunden. Auch einige westliche Agenturen berichten, da zum Zeitpunkt des Anschlags Besucher aus der Bundesrepublik in der Stadt sind. Nicht weniger als 7.000 Mitarbeiter (!) der DDR-Staatssicherheit werden für die Ermittlungsaktion „Operativer Vorgang Panzer“ zusammengezogen. Doch wer ist der Mann, der nicht nur Honecker, Mielke & Co., sondern auch die sowjetische Besatzungsmacht auf so unerhörte Art und Weise provoziert?
Martyrium im Gelben Elend
Josef Kneifel wurde am 15. November 1942 im niederschlesischen Weißig geboren. Als Kind muss er miterleben, wie seine Eltern von den einmarschierenden Sowjets ermordet werden. Er flieht mit seinen Geschwistern in die Sowjetische Besatzungszone und wird in eine stark kommunistisch geprägte Pflegefamilie gegeben. Als Jugendlicher ist seine politische Identifikation mit der DDR noch total. Frühe Zweifel stellen sich ein, als er vom in der DDR verschwiegenen Hitler-Stalin-Pakt hört. Als Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling in der Tschechoslowakei niederschlagen, klebt er Protestplakate. 1975 kommt er wegen Staatsverleumdung erstmals ins Gefängnis und wird dort erst recht zu einem gleichermaßen beinharten wie illusionslosen Staatsfeind. Verhaftet wird der Niederschlesier am 18. August 1980 nur, weil die Stasi den Pfarrer der Jungen Gemeinde (JG) abhört, in der auch sein Sohn verkehrt.
Er wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und muss insbesondere ab 1984 im Arrestkeller der Strafvollzugseinrichtung Bautzen I (dem „Gelben Elend“) ein unbeschreibliches Martyrium aus Isolationshaft und ständiger Folter über sich ergehen lassen. Brechen lässt er sich nicht und meldet sich regelmäßig als „politischer Gefangener der Honecker-Bande“. Wie durch ein Wunder überlebt der Dissident die ständigen Misshandlungen und wird 1987 in die Bundesrepublik abgeschoben. Nach der Wiedervereinigung blieb der 2020 verstorbene Kneifel ein überzeugter Oppositioneller und engagierte sich unter anderem in der „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene“ (HNG). „Einen Gegner wie Josef Kneifel hatte die DDR nur einmal“, stellte der „Spiegel“ 1992 fest.
■ Arne Schimmer
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