Freies Lernen

Freies Lernen: Physik für Freiwillige

Über einen Workshop mit einem alternativen Bildungsangebot für Kinder

Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, übernehmen gewöhnlich die überwiegende Lehrerfunktion. Daneben können auch andere Kompetenzträger die Bildung fördern, vor allem, wenn sie ausgebildete Pädagogen sind, wie im Falle einer Lehrerin für Mathematik und Physik, die aus dem Schuldienst ausgestiegen ist, um sich nun im Freilernerbereich zu engagieren. Sie berichtet im Folgenden von solch einem Bildungsangebot.

In der Stube knistert der Kamin, draußen gackern die Hühner um die Wette. Der Gärtner bereitet die Beete für die erste Aussaat vor. Die Herrin des Hauses kocht unten im Wohnhaus das Mittagessen für uns, mit Gemüse direkt vom Hof. Unterdessen führen wir unsere physikalischen Versuche durch.

Keiner von uns wusste so recht, was ihn erwartet. Es war ein Experiment. Amy ist mit 14 Jahren die Älteste. Sie war sieben Jahre lang in der Schule, ist also erst vor kurzem raus. Georg und Max waren vier Jahre in der gleichen Klasse, bevor sie Freilerner wurden. Sie sind nach zweieinhalb Jahren gut „entschult“. Maria, 12 Jahre alt, verließ schon nach der zweiten Klasse die Schule. Sie lebt mit ihren Eltern und Brüdern hier auf dem Hof. Sie und Luisa (11) sind schon lange befreundet. Luisa hat noch nie eine Schule von innen gesehen.

Die Blicke waren skeptisch, als wir uns im Februar zum Kennenlernen trafen. Ich wurde gemustert: „Eine Lehrerin? Will die jetzt Schule mit uns machen?“ Ja und nein. Wir machen Physik – Akustik, genauer gesagt. Aber natürlich freiwillig, keiner muss. Es ist ein Angebot, sich einmal drei Tage lang einem Thema zu widmen. Mit vielen Versuchen wollen wir die physikalischen Gesetzmäßigkeiten entdecken: Wann sind Töne hoch oder tief, wann leise oder laut? Was macht die Klangfarbe aus? Und wie funktioniert unser eigenes Instrument, der Kehlkopf? Zwei Brüder wollten dann doch lieber nicht: „Vielleicht beim nächsten Mal.“ Blieben fünf Kinder, die sich drauf eingelassen haben. Auch wenn es bei Maria die Mama war, die ein bisschen gedrängt hat: „Probier es doch wenigstens!“

Eine große Herausforderung waren der Altersunterschied und der unterschiedliche (Wissens-) Hintergrund. Amy hatte schon Physik in der Schule, aber ganz anders. „Irgendwie unverständlich.“ Eigentlich hatte sie keine Lust auf Physik, aber der Wunsch nach Kontakt zu Gleichaltrigen war größer. Auch Max sehnte sich nach Kontakt und findet es einfach gut, wenn was los ist. Georg und Luisa brauchen „nicht unbedingt“ andere Kinder um sich. Aber sie waren wissensdurstig und wollten etwas Neues lernen. Luisa hat sich schon viel selbst angeeignet – „aus Büchern und dem Internet“. Dafür klappt es bei ihr mit dem Schreiben noch nicht so gut. „Macht nichts!“, ermutigte ich sie.

Zum Abschluss der drei Physik-Tage sollten die Kinder ein kleines Büchlein erstellen, das richtig schön gestaltet ist, mit Zeichnungen zu allen Versuchen und den wichtigsten Erkenntnissen. Ich hatte bis zum Schluss keine zündende Idee, wie ich das für Luisa vereinfachen könnte. So wurden ihre ersten Seiten recht krakelig und sie brauchte dreimal so lang wie Amy, die geduldig wartete. Max jammerte, dass er seit zweieinhalb Jahren nicht mehr geschrieben hat und ihm die Hand weh tut. Georg war anfangs etwas verschlossen wegen der anderen, „fremden“ Kinder. Er brauchte die ganzen drei Tage zum Auftauen. Besonders gut gelang das beim gemeinsamen Essen und anschließenden Abräumen und Abwaschen.

Am Nachmittag des dritten Tages nutzten wir die letzte halbe Stunde, um unsere erstellten Blätter zusammen zu nähen. Jeder hatte sich eine schöne farbige Pappe ausgesucht als Umschlag. Erstaunlich flink wanderte die Nadel durch die zehn bis zwölf Seiten und bald hielt jeder sein Büchlein in der Hand. Maria war es deutlich anzumerken, wie stolz sie war. Physik mag sie immer noch nicht so gern, aber die drei Tage waren nett. Und dass wir das mal wieder machen können, waren sich auch alle einig. Vielleicht mit Optik? Oder Elektrizität oder Wärmelehre oder mal Chemie…? Mathe wär auch mal ganz gut, das braucht man ja doch im Leben.

Luisas Schriftbild wurde auf jeder Seite schöner. Am Ende ist es ihr selbst aufgefallen, dass das mit dem Schreiben jetzt viel besser klappt. Georg und Max reden jetzt, nach zwei Monaten, immer wieder mal von den Physik-Tagen – und den Mädchen.  

■ Lisa L.

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