Dekadenz - Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?
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Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

Ernüchternde Bilanz: Viele Ex-DDR-Bürger sind unzufrieden.

Bei einer Gesprächsrunde in Leipzig, an der sich neben einem alten Wende-Aktivisten und mehreren anderen Konservativen auch zwei linksgrüne Künstler beteiligt hatten, machte ich eine spannende Beobachtung: Während der rechte Teil der Veranstaltung, der ausnahmslos 1989 / 90 auf der Straße war und die Wiedervereinigung mit erkämpft hatte, dem derzeitigen Staatssystem mehr oder weniger kritisch bis ablehnend gegenübersteht, war der linke Teil, damals auch auf der Straße, aber mit Bündnis 90 gegen die Wiedervereinigung, mit der Entwicklung rundum zufrieden. Nun ist der Anschluß an die BRD 34 Jahre her. Kein rundes Jubiläum, aber doch Anlaß, ein wenig Bilanz zu ziehen.

Wir hatten in der DDR einen gefühlt allgegenwärtigen Geheimdienst, der uns bespitzelte, Abweichler notierte, Briefe öffnete und Telefongespräche belauschte. Heute ist die Bundesrepublik Weltmeister im Abhören von Telefongesprächen. Internetanbieter sind gesetzlich verpflichtet, staatlichen Diensten jederzeit Zugang zur Kommunikation zu verschaffen. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

In der DDR lebten wir mit Maulkorb. Es gab Dinge, die durften nicht ausgesprochen werden, wollte man Freiheit, soziale Achtung oder den Arbeitsplatz nicht gefährden. Den häufig gehörten Spruch meines Vaters „Aber daß Du das nicht in der Schule sagst!“ habe ich noch im Ohr. Und heute führt die BRD-Justiz jedes Jahr mehr Strafverfahren wegen unliebsamer Äußerungen als die DDR in 40 Jahren ihres Bestehens. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen? Wir waren abgeschnitten vom freien Diskurs. Worüber die Welt diskutierte, welche Ideen und Themen die Runde machten – wir erfuhren es nicht oder nur höchst gefiltert, denn viele Bücher waren schlicht nicht erhältlich, die Einfuhr wurde aktiv unterdrückt. Doch ohne freien Diskurs gibt es keine Entwicklung. Selbst Klassiker und weltweite Bestseller wie Karl May wurden an den Rand gedrückt, paßten sie doch nicht ins sozialistische Weltbild. Heute paßt Karl May nicht ins woke Weltbild. Und auf dem Index stehen mehr Werke als in der gesamten deutschen Geschichte zuvor. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

Die Welt wurde uns eingeteilt in Freund und Feind. Schon im Schulatlas sahen wir ganz übersichtlich: Die roten Länder sind die guten, die blauen die bösen. Heute gibt es wieder Schurkenstaaten, mit denen wir keinen Handel treiben dürfen. Und der alte Zwangsfreund ist der neue Zwangsfeind. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

Ein guter Ingenieur, Arzt, Wissenschaftler zu sein, reichte nicht, man mußte auch den Marxismus-Leninismus beherrschen. Die Partei hatte sowieso immer Recht und war Hüter des wissenschaftlichen Weltbildes. So absurde Blüten dieses manchmal trieb, es durfte nicht in Frage gestellt werden. Und heute? Als Arzt impfkritisch? Als Meteorologe nicht vom Klimawandel überzeugt? Als Ingenieur für Verbrennungsmotoren? Ein Pastor, der laut ausspricht, daß laut Bibel die Menschen als Mann und Frau geschaffen sind? Gesellschaftliche Ächtung und beruflicher Abstieg sind die Folge. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

Undurchsichtige Machtstrukturen, Korruption und Vetternwirtschaft. Beziehungen und Systemtreue entschieden über Aufstiegschancen. Zur unverbrüchlichen Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion mußte man sich sowieso bekennen. Und heute? „Haltung“ wird für öffentliche Ämter wieder erwartet. Die große Agenda von Multikultur über Klimawandel, Feindschaft zu Rußland bis natürlich zur „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ dürfen nicht hinterfragt oder kritisiert werden, sonst ist man draußen. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen? Man mußte froh sein, daß einem oft mehr Dreck als Kohle vor das Grundstück gekippt wurde, um im Winter nicht zu frieren. Heute kommt das Gas bequem in den Keller, aber staatliche Sanktionen sorgen dafür, daß es für viele kaum noch bezahlbar ist. Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

Die NATO und v.a. der Amerikaner waren das absolut Böse, die uns aus irgendeinem Grund ans Dasein wollten und vor Krieg nicht zurückschrecken würden. Und heute müssen wir entdecken, daß die SED-Propaganda in diesem Punkt wohl nicht ganz falsch lag… Und dafür sind wir auf die Straße gegangen?

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. wofür sind wir denn nun auf die Straße gegangen?

Es gab zur Wendezeit im Westen einen Witz, der auch als Sketch im Fernsehen vorkam: Ein Zug rollt auf einem westdeutschen Provinzbahnhof ein, Leute aus der DDR steigen aus. Ein Lokalredakteur soll darüber einen Artikel schreiben, er greift sich eine Frau heraus und fragt sie, warum sie in den Westen kommt. „Weschn en Videorekorder, Golf GTI und Marlboro,“ antwortet sie auf Sächsisch. Der Reporter sagt, so könne er das nicht schreiben. „Wieso könn´se das nicht schreibm? Hier is doch Freiheit!“ Das gefällt ihm besser: „Ah, das ist gut. Schreiben wir, Sie kommen wegen der Freiheit, ja?“ „Nee, ich komm weschn en Videorekorder, Golf GTI und Marlboro!“

Dieser Witz war besonders in linken Kreisen beliebt, die dem Einheitstaumel skeptisch gegenüberstanden, aus ihrer 68er antideutschen Grundhaltung heraus, wegen der ihnen ein größeres Deutschland mit wiedererwachendem Nationalstolz höchst gefährlich erschien. Die von den West-Konservativen idealisierten DDR-Bürger, die heldenhaft für Freiheit und deutsche Einheit kämpfen, sollten umgekehrt herabgewürdigt werden zu konsumgeilen Untermenschen, von denen man garantiert nichts lernen kann und denen man jeden Idealismus absprach. Zertrampelten sie doch gerade das nach Meinung vieler West-Linker ideale und erstrebenswerte sozialistische Paradies, und das wegen schnöder materieller Gelüste. Das noch heute im Westen höchst populäre Narrativ von den einfältigen und dennoch gefährlichen Sachsen, die zwar alles haben wollen, aber die ideellen Segnungen der schönen neuen Welt so wenig zu schätzen wissen, hat dort seine Wurzeln.

Aber ist der Witz deswegen falsch? Ich frage einmal anders: Hätten uns ein betonköpfiges Politbüro und ein vergreistes Zentralkomitee gestört, wenn die Westdeutschen neidisch zu uns geschaut hätten, auf unsere Lebensqualität, unsere tollen Autos, unsere modernen Wohnungen, unsere leckere Schokolade? Und hätten wir uns über die gleichgeschaltete Lügenpresse von Neuem Deutschland bis Freier Presse so aufgeregt, wenn wir jedes Jahr auf die Malediven, nach Spanien, Griechenland, Kanada, Frankreich, Südafrika und sonst noch wohin hätten reisen können?

Haben wir für die Demokratie gekämpft?

Nein. Wir sind nicht wegen der Demokratie auf die Straße gegangen. Aber stand das nicht auf den Transparenten? Freie Wahlen! Demokratie jetzt! Ja, das stand da. Aber war das wirklich unsere Motivation? Haben wir lange nachgedacht, die griechischen Philosophen und die moderne Geschichte studiert und sind dann zu dem Ergebnis gekommen: die parlamentarische Demokratie (mit Fünfprozenthürde) ist das Non plus ultra der menschlichen Entwicklung, das muß es sein?

Wieder nein. Wir haben nach Westen geschaut und gesehen: Wohlstand, Freiheit, Demokratie. Das gehört offenbar zusammen, das wollen wir haben. Und damit sind wir einer geschickten propagandistischen Verführung aufgesessen, nämlich daß Demokratie Freiheit und Wohlstand schafft. Dafür müssen wir uns nicht schämen, denn dieser Propagandalüge sitzt mindestens die halbe Menschheit auf, und sie wird ja auch sehr geschickt weltweit propagiert. Aber schämen müßten wir uns, wenn wir die demokratische Propagandalüge nicht nach über 30 Jahren allmählich zu durchschauen beginnen würden. Denn spätestens in den letzten Monaten und Jahren sehen wir, daß eine Demokratie beides, Freiheit und Wohlstand, auch ganz effektiv und vor allem fast ungehindert vernichten kann. Hätten wir die griechischen Philosophen studiert, wüßten wir das schon lange.

Fakt ist: Ein Staat schafft nie Wohlstand. Er kann nur dem Entstehen von Wohlstand mehr oder minder intensiv im Wege stehen. Der BRD-Staat der 50er bis 80er stand ihm relativ wenig im Wege, der DDR-Staat deutlich mehr. Dieser Unterschied hat wenig mit dem Regierungssystem zu tun.

Was dagegen wirklich miteinander zusammenhängt, sind Freiheit und Wohlstand. Wohlstand wird geschaffen, wenn Menschen ihre Begabungen entwickeln können, wenn die Früchte von Fleiß und Mühe bei ihnen verbleiben und wenn sie sich frei mit anderen Menschen austauschen können, und zwar sowohl in Bezug auf ihre Ideen und Ansichten als auch auf ihre Waren und Produkte. Tatsächlich sind wir also, vielleicht mehr als wir das dachten, für die Freiheit auf die Straße gegangen, denn Freiheit ist die Voraussetzung für Videorekorder, Golf GTI und Marlboro. Keiner muß sich schämen, eigentlich nicht wegen hochidealistischer Ziele, sondern wegen mehr Lebensqualität demonstriert zu haben. Es ist das Grundbedürfnis eines jeden Lebewesens und das wirkliche Menschenrecht, für seine Leistung und seine Fähigkeiten so viel wie möglich Gegenwert zu erlangen. Wir waren in der DDR nicht dümmer als die im Westen, und wir haben sogar länger gearbeitet. Durch den Staat wurde uns die Freiheit genommen, damit entsprechenden Wohlstand zu erzeugen. Völlig legitimerweise haben wir uns dagegen aufgelehnt.

Vorsicht, Ketzterei!

Man kann es auf den Punkt bringen: Je weniger staatliche Einflußnahme (und damit mehr Freiheit), desto mehr Wohlstand. Und die Demokratie hat leider, das wußten schon die alten Griechen, die Tendenz, totalitär zu werden. Sie greift sich mehr und mehr Lebensbereiche und vernichtet nach und nach die Freiheit. Das erleben wir gerade. Und mit der Freiheit vernichtet sie den Wohlstand. Letzteres geschieht zeitversetzt und wird daher nicht gleich erkannt. Denn erst einmal ist ja noch etwas aus besseren Zeiten da.

Anstatt nach Westen hätten wir besser etwas in die Geschichte geschaut: Im Königreich Sachsen war das Maß der persönlichen Freiheit erheblich höher als heute, und auch höher als in der alten Bundesrepublik. Gerade einmal zehn Prozent betrug der Spitzensteuersatz auf das Einkommen. Umsatzsteuer kannte man vor dem 1. Weltkrieg überhaupt nicht! Denkverbote entstanden nicht, sondern fielen weg. Anstatt sich neue Beschränkungen und Schikanen auszudenken, tat beispielsweise König Johann 1862 das Gegenteil: Er führte die Gewerbefreiheit ein, fast alle Beschränkungen für die wirtschaftliche Betätigung der Untertanen fielen weg. Und es kam, wie es kommen mußte: Ein beispielloser Wirtschaftsaufschwung war die Folge.

Heute sind wir weit davon entfernt, das Gegenteil findet statt: Ausufernde staatliche Eingriffe vernichten Freiheit und damit auch Wohlstand, die Wirtschaft geht den Bach hinunter. Deutschlandweit ist für dieses Problem weder ein verbreitetes Bewußtsein noch eine Änderungsbereitschaft vorhanden.

Anders in Sachsen und den angrenzenden Gebieten. Doch es genügt nicht, das Problembewußtsein zu haben, man muß auch danach handeln. Die zahlreichen immer größeren Proteste sind ein wichtiger Anfang. Wie zu Zeiten König Johanns sind wieder sächsische Alleingänge notwendig. Soweit möglich innerhalb der Bundesrepublik, aber nötigenfalls auch ohne sie.

■ Martin Kohlmann

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