Gewisse Gesetze der Physik scheinen schlicht und einfach unumstößlich zu sein. So fällt ein Stein, der einem entgleitet, wegen der Schwerkraft zu Boden. Die Nadel eines Kompasses weist immer nach Norden, ein weiteres, scheinbar unumstößliches Naturgesetz, denn dafür sorgt ja schließlich das Erdmagnetfeld, das die Bestimmung der magnetischen Nordrichtung erlaubt. Die alten Chinesen erfanden den Magnetkompass schon ungefähr rund um die vorletzte Jahrtausendwende – die Schaffung dieser Geräte bestand in der Kunst, geschmolzenes Eisen nach dem irdischen Magnetfeld ausgerichtet abzukühlen und ihm so magnetische Leitfähigkeit zu verleihen.
200 Jahre später wurde der Kompass in dieser Form auch von Seefahrern im östlichen Mittelmeerraum genutzt – viele Kulturwissenschaftler halten ihn für die wichtigste menschliche Erfindung nach dem Rad und der bewussten Nutzung des Feuers. Der Blütezeit der Republik Venedig begann dann um das Jahr 1300 herum mit der systematischen Verwendung des neuen Navigationsinstruments, das es der Dogenrepublik ermöglichte, ihre Schiffe nun ganzjährig auslaufen zu lassen, denn eine Orientierung am Stand der Sonne war nun nicht mehr notwendig.
Der Erddynamo ist instabil
Die Magnetnadel wurde nun manchmal schon freischwingend auf einer Windrose angebracht, was die Navigationsarbeit sehr erleichterte – in dieser Form leistet der Kompass der Menschheit nun seit mehr als 800 Jahren unschätzbare Dienste. Viele Seefahrer glaubten damals, die Kompassnadel werde vom Polarstern oder von einem riesigen Eisenberg am Nordpol angezogen. Erst der englische Arzt und Physiker William Gilbert erkannte um das Jahr 1600 herum, dass die Erde selbst ein einziger großer Magnet mit zwei Polen war. Diese Auffassung, die er in seiner Schrift „De Magnete“ niederlegte, ist in ihren Grundzügen bis heute gültig geblieben, allerdings konnte erst die moderne Wissenschaft die große Komplexität des Erdmagnetfeldes aufzeigen.
Dieses besteht nämlich aus drei Komponenten, das wichtigste ist der sogenannte Geodynamo im Erdkern. Er wird gebildet von einem Ozean aus dünnflüssigem Eisen, der sich im äußeren Erdkern befindet und der für etwa 95 Prozent der Stärke des Erdmagnetfeldes verantwortlich ist. Weitere Komponenten des Erdmagnetfelds sind große Erzlagerstätten in Teilen der oberen Erdkruste sowie elektrische Ströme in der Atmosphäre der Erde. Aber die Zusammensetzung des Erdmagnetfeldes ist nicht nur wesentlich komplizierter als man früher dachte, sondern der Geomagnetismus an sich ist auch relativ instabil. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte der französische Geophysiker Bernard Brunhes bei der Betrachtung der alten Gesteine eines Lavaflusses und der in ihm eingeschlossenen Eisenminerale, dass diese entgegengesetzt zum heutigen Erdmagnetfeld ausgerichtet waren.
Von dieser Entdeckung schloss er auf die Möglichkeit einer Umpolung des Erdmagnetfelds – eine These, die durch paläomagnetische Untersuchungen in den 1950er Jahren schließlich bestätigt werden konnte. Demnach kehrt sich das Erdmagnetfeld im Mittel etwa alle 250.000 Jahre um, aus Nord wird dann Süd. Das letzte solche Ereignis war die sogenannte Brunhes-Matuyama-Umkehr vor rund 786.000 Jahren, eine erneute Feldumkehr der Erde wäre also sozusagen überfällig. Lange Zeit nahmen die Wissenschaftler an, dass die sogenannten Polsprünge kontinuierlich in einem langen Zeitraum von ungefähr 5.000 Jahren ablaufen. Dies ist aber nicht der Fall.
Der italienische Geologe Leonardo Sagnotti vom „Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanismus“ in Rom untersuchte im Jahr 2014 gemeinsam mit Courtney Sprain von der University of California in Oakland die letzte Umpolung – also die Brunhes-Matuyama-Umkehr – anhand von Lavaablagerungen im Sulmona-Becken östlich von Rom, dabei wurden neueste Datierungsmethoden genutzt. Den Wissenschaftlern gelang nicht nur die relativ genaue Bestimmung der letzten Feldumkehr vor 786.000 Jahren, sondern sie gewannen auch die äußert überraschende Erkenntnis, dass sich diese wohl in einem Zeitraum von nur 100 Jahren vollzog – das ist, an geologischen Kriterien gemessen, nicht einmal ein Wimpernschlag.
Umpolungen können sehr schnell verlaufen
Paul Renne, ein damaliger Ko-Autor der Studie und ebenfalls Wissenschaftler an der „University of California“, betonte: „Es ist unglaublich: Es geht nahezu ohne Übergang von einer umgekehrten Polung zum heute normalen Feld. Das bedeutet, dass es damals enorm schnell gegangen sein muss – vermutlich innerhalb von nur 100 Jahren.“ Eine neuerliche Umpolungsphase wäre gefährlich für das Leben auf der Erde, denn es wäre dann viel stärker dem ständigen Strom geladener Teilchen, also dem Sonnenwind und der kosmischen Strahlung, ausgesetzt als jetzt, wo dieser größtenteils durch das Magnetfeld um die Erde herumgelenkt wird. Auch während einer Umpolungsphase würde wenigstens die Atmosphäre als Schutzschild erhalten bleiben, aber Sonnenstürme könnten viel größeren Schaden anrichten und die menschliche Technik wohl in großen Teilen lahm legen.
Vogelarten, die sich am Erdmagnetfeld orientieren, würden die Orientierung verlieren, so wie das heute schon bei sehr starken Sonnenstürmen manchmal der Fall ist. Auch Wale orientieren sich nach neuesten zoologischen Erkenntnissen vermutlich am Erdmagnetfeld, und das immer wieder auftretende und bislang rätselhafte Massensterben dieser Tiere an den Stränden ist vermutlich ebenfalls auf Sonnenstürme oder andere Beeinträchtigungen des Geomagnetismus zurückzuführen. Der deutsche Meeresforscher Boris Culik äußerte dazu in einem Interview mit der Tageszeitung „taz“ vom 24. März 2018: „Das ist vergleichbar mit Autofahrern, die sich blind auf ihr Navi verlassen und dann vom Anleger ins Wasser fahren, ohne zu schauen, ob da wirklich eine Fähre auf sie wartet.“
Ein Polsprung würde wohl auch Auswirkungen auf das Klimageschehen haben, denn die erhöhte Ionisierung der Atmosphäre würde zu einer verstärkten Bildung niedriger Wolken beitragen. Klar ist, dass die Menschheit schon seit längerer Zeit in einer Phase der anhaltenden Abnahme des Erdmagnetfelds lebt – es schwächt sich vermutlich schon seit 700 Jahren, mindestens aber seit 170 Jahren ab. Im Bereich der „Südatlantischen Anomalie“, die ihr Zentrum kurz vor der Küste Brasiliens hat, gibt es punktuell sogar schon Regionen mit umgekehrter Polarität. Hier befindet sich „eine Art magnetischen Bermudadreiecks“, wie es Max Rauner in einem Artikel für die Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 12. Februar 2013 formulierte.
Aufgrund einer regionalen magnetischen Anomalie, die schon Alexander von Humboldt vor knapp 190 Jahren auffiel, ist das Erdmagnetfeld hier deutlich schwächer als anderswo und in etwa nur halb so stark wie in Europa. Das hat für die Weltraumfahrt große Auswirkungen, so bekommen die Astronauten der Internationalen Raumstation hier auf ihrer Umlaufbahn um die Erde in wenigen Minuten die Hälfte ihrer täglichen Strahlendosis ab, auch viele Satelliten müssen ausgeschaltet werden, wenn sie das Gebiet überqueren.
Nordpol wandert nach Sibirien
Es handelt sich hier aber wie gesagt um eine Anomalie, die schon länger besteht und vermutlich auf ein sehr dichtes und heißes Mantelgestein zurückzuführen ist, das hier den äußeren Erdkern umgibt. Ein weiteres erstaunliches (und für manche Beobachter beunruhigendes) Phänomen ist die derzeit sehr schnell verlaufende Wanderung des geomagnetischen Nordpols, der jährlich 65 Kilometer in die nordwestliche Richtung zurücklegt und sich damit von Kanada nach Sibirien verlagert. Der magnetische Pol ist dabei als der Ort definiert, an dem die magnetischen Feldlinien senkrecht auf die Erdoberfläche treffen. Der magnetische Südpol wiederum hat in den letzten Jahrzehnten seine Lage kaum verändert. Vor einigen Jahren machten wieder zahlreiche Geologen anlässlich der Generalversammlung der „European Geosciences Union“ (EGU), die vom 7. bis zum 12. April 2018 in Wien stattfand, auf die Bedeutung ihres Forschungsgebietes aufmerksam.
Auch sie konstatierten eine „signifikante Schwächung“ des Erdmagnetfeldes, dessen Ursachen noch besser erforscht werden müssten. Sie berichteten auch über die neuesten Erkenntnisse der Satellitenmission „Swarm“, die von der Europäischen Weltraumorganisation ESA durchgeführt wird. Sie besteht aus drei baugleichen Satelliten, die die Erde seit dem 22. November 2013 in der Ionosphäre – also dem Teil der Hochatmosphäre, der den größten Anteil an geladenen Teilchen enthält – auf den polaren Umlaufbahnen umkreisen. Die Mission führte schon zu zahlreichen neuen Erkenntnissen, so den Anteil der Gezeiten und der Ozeane am Erdmagnetfeld sowie zu Informationen über das Strömungsgeschehen in den Weltmeeren.
Ob wirklich mit einer Umpolung des Erdmagnetfelds gerechnet werden muss, kann derzeit freilich kein Wissenschaftler vorhersagen. Das stellte auch schon Reinhard Hüttl, der Leiter des Geoforschungszentrums Potsdam, in dem im Jahr 2011 von ihm herausgegebenen Buch „Ein Planet voller Überraschungen – Neue Einblicke in das System Erde“ fest. Hier heißt es: „Mit unserem heutigen Kenntnisstand ist eine in geologisch naher Zukunft bevorstehende Feldumkehr weder auszuschließen noch vorherzusagen.“ Andere Experten sind weniger vorsichtig mit ihren Einschätzungen. So stellte Lars Fischer in einem Artikel vom 22. Februar 2020 in der renommierten Zeitung „Spektrum der Wissenschaft“ fest: „Das Erdmagnetfeld tut seltsame Dinge, und niemand weiß warum. Sein Nordpol wandert derzeit um mehr als 50 Kilometer pro Jahr quer übers Polarmeer, und über dem Südatlantik hat es ein ausgeprägtes Loch. Seit Jahrhunderten wird es schwächer. Steht uns ein dramatisches geologisches Ereignis bevor? Viele Fachleute mutmaßen: Magnetischer Nord- und Südpol könnten schon bald ihre Plätze tauschen.“
Das Thema Umpolung des Erdmagnetfeldes hat jedenfalls nichts mit Esoterik oder Aluhutdenken zu tun, sondern wird die Geowissenschaftler auch in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen.
■ Arne Schimmer
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