Nur in den Monaten nach dem Mauerfall wurde die von Michael Kühnen geschaffene Bewegung auch tatsächlich zu einer Massenbewegung. Brisante Hintergründe, verschwiegene Tatsachen: In unserem Sonderheft „Die DDR – Geschichte eines anderen Deutschlands“ präsentieren wir Ihnen die Geschichte der DDR, wie Sie sie noch nicht kannten – garantiert! Hier bestellen!
Im April 1992 spielte sich irgendwo in Deutschland ein ebenso makabrer wie merkwürdiger Vorfall ab. Ein sogenanntes „Autonomes Umtopfungskommando“ stahl die Urne mit der Asche von Michael Kühnen aus dessen Grab im Kasseler Waldfriedhof. Die sterblichen Überreste des „bekanntesten Neonazis Deutschlands“ – so wurde der am 25. April 1991 an den Folgen einer AIDS-Erkrankung Verstorbene in vielen Medien bezeichnet – gingen nun auf eine Reise an einen bis heute unbekannten Ort.
Die Linksextremisten behandelten ihr Diebesgut auf eine erstaunlich respektvolle Art und Weise. In einem Schreiben verlautbarten sie, sie hätten den einstigen Anführer der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS) in einem anonymen Wald- und Wiesengrab beigesetzt. Weiter betonten sie: „Lediglich eine um die Urne gewickelte Reichsflagge wurde von uns verbrannt und seiner Asche beigelegt“. Der Publizist Hans-Dietrich Sander stellte dazu in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Staatsbriefe“ fest: „Die autonome Zeremonie war sehr deutsch, deutscher, als es den Tätern bewusst sein konnte. Sie wußten auch nicht, dass sie mit dem anonymen Grab einen Wunsch des Verstorbenen erfüllten.“
Schülersprecher und Elitesoldat
Michael Kühnens Leben war ähnlich extrem wie das Schicksal seines Leichenbrands. Der am 21. Juni 1955 in Beuel (heute einer der vier Stadtbezirke der Bundesstadt Bonn) geborene spätere rechte Polit-Aktivist war Schülersprecher am elitär-katholischen Jungen-Internat Collegium Josephinum und später dann Jahrgangsbester des Offizierlehrgangs an der Kampftruppenschule I der Bundeswehr in Hammelburg. Einem Aufstieg in höchste gesellschaftliche Ränge hätte also nichts entgegengestanden, wenn der rhetorisch überaus begabte Rheinländer sich nicht dazu entschlossen hätte, mit dem Einsatz seiner gesamten persönlichen Existenz einen Kampf für die Wiederzulassung der NSDAP zu führen.
Das brachte ihm, der nur ein Alter von 35 Jahren erreichen sollte, eine Haftzeit von insgesamt acht Jahren ein. Zu betonen ist dabei, dass sich Kühnen in einer ansonsten der Militanz durchaus nicht völlig abgeneigten Szene völlig gewaltfrei für sein Ziel einsetzte. War er also eine Art Buddha des deutschen Neonazismus? Wer als Rechter in den 80er Jahren politisch sozialisiert wurde, dem dürften sich die Bilder von Kühnens Auftritten in deutschen Gerichtssälen oder diversen TV-Dokumentationen eingebrannt haben.
Transportiert wurde das Bild eines nicht nur entschlossenen, sondern auch empathischen Rechtsextremisten, dem es eigentlich immer irgendwie gelang, einen Draht zu seinem Publikum zu finden. Sein langjähriger enger politischer Weggefährte Christian Worch wird in Werner Bräuningers ausgezeichneter Biografie „Kühnen: Ein deutsches Schicksal – Die Biografie“ mit den Worten zitiert, dass niemand dem Ideal des Samurai von der „Unbedingtheit des Wollens“ so nahegekommen sei wie er.
Insbesondere in männerbündlerisch geprägten Kreisen bewegte und artikulierte er sich mit traumwandlerischer Sicherheit und schuf sich hier eine ihm treu ergebene und zu fast allem bereite Gefolgschaft, die zumindest in der alten Bundesrepublik einen Kreis von wenigen Hundert Personen allerdings nie überschritt. Allerdings muss sich Kühnen den Vorwurf gefallen lassen, dass er unverantwortlich handelte, weil er seine Anhänger für unerreichbare und komplett utopische Ziele rücksichtslos opferte. Der schon erwähnte Hans-Dietrich Sander bezeichnete ihn einmal treffend als „Visionär und Phantast“.
Erfolg in der untergehenden DDR
Als er in den letzten Monaten der kollabierenden DDR dann tatsächlich eine Massenbewegung hinter sich bringen konnte, war er von seiner AIDS-Erkrankung schon so geschwächt, dass er die sich bietende Situation nicht mehr voll ausnutzen konnte. Vermutlich wäre die von Kühnen entwickelte Ideologie, die an linke Elemente im Nationalsozialismus, an die Schriften und Reden des 1934 ermordeten SA-Führers Ernst Röhm und sogar an den Maoismus anknüpfte, im Osten weit anschlussfähiger gewesen als in der saturierten alten Bundesrepublik. Außerdem wurde Kühnens Homosexualität vom DDR-sozialisierten Teil der Bewegung – ganz anders als in Westdeutschland – nicht als Aufregerthema wahrgenommen.

Kühnens Leben glich einem fiebertraumartigen Trip und würde genug Stoff für eine Netflix-Serie abwerfen. Beginnend mit den rastlosen Aktivitäten des „SA-Sturm Hamburg“ über den Tod des jungen Nachwuchskaders Klaus-Ludwig Uhl, der in das Kreuzfeuer bayerischer Polizisten gerät, Kühnens Zeit im Pariser Exil sowie das berühmte und von der Journalistin Christa Ritter geführte Interview mit dem Zeitgeistmagazin „Tempo“ im Februar 1989. Enden würde die Serie in dem von nationalen Aktivisten besetzten Haus in der Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg – das war das letzte große Ausrufezeichen, das die Kühnen-Bewegung setzen konnte – und dem qualvollen Sterben des Protagonisten in einem kleinen Haus in dem abgelegenen thüringischen Ort Zimmern.
Unterlegt würde die Serie mit einem Soundtrack, der aus Death In June, den elektronischen Rhythmen von DAF („Tanz den Mussolini“) und dem Liedermacher Frank Rennicke bestehen würde. Allerdings dürfte sich beim Blick auf Kühnens Leben auch bei stramm nationalen Beobachtern ein gewisses Störgefühl nicht unterdrücken lassen. Unwillkürlich fragt man sich, ob das, was von Michael Kühnen unter größten persönlichen Opfern angestoßen wurde, überhaupt noch richtig und sinnvoll war.

Als fatal darf man im Rückblick wohl die Entscheidung des gebürtigen Rheinländers werten, sich 1977 der von dem US-Amerikaner Gary Lauck gegründeten und in Deutschland im Untergrund arbeitenden NSDAP-AO (letzteres Kürzel steht für „Aufbauorganisation“) anzuschließen und sein Hauptaugenmerk auf die Beseitigung des NS-Verbots zu richten. Kühnen lenkte seine großen Fähigkeiten damit auf einen politischen Nebenkriegsschauplatz, der zudem noch geschichtspolitisch völlig verbranntes Terrain darstellte und auf strafrechtlicher und juristischer Ebene einem tödlichen Minenfeld glich.
Begegnung mit Erich Fried
Auch der im Februar 2023 verstorbene nationalrevolutionäre Publizist Jürgen Schwab stellte schon vor Jahren auf der Internetseite des „Sache des Volkes“ fest:
„Das Wiedergründungsverbot ist Folge der Fremdherrschaft über Deutschland und Österreich. (…) Das NSDAP-Verbot ist Symptom des Souveränitätsverlustes. Die Frage, wozu man eigentlich heute die NSDAP als Wahlpartei braucht, um dem Ziel der Wiedergewinnung der deutschen Souveränität näher zu kommen, konnte bislang von den Führern der Neonazi-Szene nicht beantwortet werden.“
Kühnens Bemühungen glichen in dieser Hinsicht denen des Sisyphos. Die von ihm geleiteten Organisationen wurden verboten und er selbst immer wieder zu Haftstrafen verurteilt.
Dennoch blieb er jederzeit ein menschlich aufrichtiger wie auch intellektuell redlicher und streitbarer Gesprächspartner. Jeden noch so großen Antagonismus schien er spielend zu überbrücken. Besonders bekannt geworden ist sein Briefwechsel mit dem in Wien geborenen, jüdischstämmigen Autor Erich Fried, der ab 1938 im britischen Exil lebte und der zu den meistgelesenen deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts zählte („Es ist, was es ist, sagt die Liebe“). Auf seine Art war Fried ein ähnlich radikaler Nonkonformist wie Kühnen. Der Lyriker stellte sich zeitlebens allen Kollektivschuldvorwürfen gegen das deutsche Volk in den Weg.
Mit Blick auf seine früheren Wiener Klassenkameraden äußerte er einmal:
„Sie haben sich auch, da wir schon sieben Jahre zusammen waren, als die Nazis gekommen sind, zu ihren jüdischen und antifaschistischen Mitschülern fast ausnahmslos anständig verhalten.“
Mit solchen Auffassungen stand der Bestsellerautor schon seinerzeit einem politisch-medialen Komplex diametral gegenüber, der immer häufiger die Zuchtrute der Vergangenheitsbewältigung gegen die Deutschen einsetzte. Sein durch und durch freundschaftlich gefärbter Kontakt zu Michael Kühnen wurde als weitere Provokation wahrgenommen. Der in London lebende Dichter bot sich sogar an, für den bekanntesten Neonazi Deutschlands vor Gericht auszusagen.
Man kann vieles aus der Geschichte von Michael Kühnen und seiner Bewegung und ihrem letztendlichen Scheitern lernen. Die von dieser erhobene Forderung nach einer Restauration des Nationalsozialismus war jedenfalls nicht nur auf strategischer, sondern auch auf politischer Ebene eine Sackgasse. Wer mehr über Kühnen erfahren möchte, der sollte zu dem schon erwähnten Buch von Werner Bräuninger greifen. Das in dem Buch zusammengetragene Fotomaterial ist einfach sensationell und die gesamte hochwertige und einfach schöne Edition ein Meisterwerk des Dortmunder Verlegers Sascha Krolzig. Wer künftig über die Geschichte der radikalen Rechten in Deutschland mitreden möchte, der muss dieses Buch gelesen haben!
Werner Bräuninger: „Kühnen: Ein deutsches Schicksal – Die Biografie“, Sturmzeichen-Verlag, 432 Seiten + 48 Seiten farbiger Bildteil.
■ Arne Schimmer
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