Die Vorgeschichte des Wave-Gotik-Treffens reicht bis in die Spätzeit der DDR zurück. Ende der 1980er Jahre bildete sich in Leipzig eine lose Szene junger Leute, die sich, in Anlehnung an die damals im Westen bereits etablierte Wave- und Gothic-Subkultur, schwarz kleideten, die Haare toupierten, Musik von Gruppen wie Depeche Mode oder The Cure hörten. Einen ausführlichen Artikel über den Punk- und Gothic-Untergrund der DDR finden Sie in unserem Sonderheft „Die DDR: Geschichte eines anderen Deutschlands“. HIER bestellen!
Ein Leben ohne Wave-Gotik-Treffen ist möglich, aber sinnlos. Dieses Bonmot würden sicherlich Tausende von Anhängern der Dark-Wave-Szene rund um den Erdball unterzeichnen. Nirgendwo zelebriert sich der musikalische Untergrund so emphatisch wie jedes Jahr in Leipzig über die Pfingstfeiertage.
Auch die Besucher, die gestern in der Pleißestadt eintrafen, wurden wieder mit der unvergleichlich entspannten Atmosphäre begrüßt, die sich in den Pfingsttagen über die sächsische Metropole legt. Langsam, aber sicher, prägen dunkel gewandete Personen das Stadtbild. Viele machen sich auf in Richtung des Alten Messegeländes.
Neofolk mit Humor
Kaum ein Ort in Leipzig könnte nämlich geeigneter für dieses Festival sein als der Volkspalast, der nicht umsonst als das erhaltungswürdigste Denkmal auf dem gesamten Messegelände gilt und dessen Frontansicht an das römische Pantheon erinnert: Eine 28 Meter hohe Halle wird von einer Kuppel mit einem Durchmesser von 30 Metern überragt. Im Gebäude selbst können die Besucher nun während mehrstündigen Konzertveranstaltungen mit einer Vielzahl von Gruppen tief abtauchen in die akustischen Klangwelten der medial weitgehend geächteten Subkultur des Neofolk.
Diese Stilrichtung der Schwarzen Szene versteht sich als eine Art Erbe der Volksmusik, im Gegensatz zu dieser dominieren aber oft klare Rhythmen, was der Musik nicht selten ein militärisches Gepräge verleiht. „Fast allen Bands gemein sind ein verklärter Antimodernismus und die unausgesprochene Frage, wie Folkmusik klänge, hätte es die US-amerikanische Popgeschichte nie gegeben“, stellte das Magazin Rolling Stone als das wohl bedeutendste Periodikum für populäre Musik einmal fest.
Die Hauptattraktion des gestrigen Abends war wohl die Gruppe Death In Rome. Es handelt sich um eine Neofolk-Coverband, die selbst Titel wie „Pump Up The Jam“ von Technotronic oder „Barbie Girl“ von Aqua durch militanten Einsatz von Schlaginstrumenten, dichte Keyboard-Teppiche und kühl wirkende Samples in fast schon mustergültige Neofolk-Stücke verwandelt. Dazu ist natürlich eine enorme Prise an Selbstironie und Humor nötig, den die drei Bandmitglieder, die nicht allzu viel von sich preisgeben wollen, allerdings auch mitbringen. Der Band gelingt es immer wieder, selbst das trashigste Ausgangsmaterial in einen irgendwie romantisierenden oder militaristischen Rahmen zu pressen. Eine witzige Idee, die sich zudem noch verdammt gut anhört.

Zum Abschluss des Neofolk-Abends gibt es noch ein besonderes Schmankerl, nämlich das Projekt „Ianva“. Schon der Bandname dieser im Jahr 2003 in Genau gegründeten Gruppe hat mehrere Bedeutungen: Er nimmt einerseits Bezug auf den doppelköpfigen Gott Janus, soll aber auch bewusst Anklänge an das lateinische „Ianua“, also die „Tür“ erinnern, und zwar verstanden im Sinne einer „Rite de Passage“. Außerdem – und daraus macht die Gruppe auch gar kein Geheimnis – war „Ianva“ eine aus Genua stammende Sondereinheit der „Arditi“, also der Freischärler, die unter dem Kommando ihres Anführers Gabriele D`Annunzio im September 1919 die Adria-Stadt-Fiume besetzten und die damit das laufende Waffenstillstandsabkommen unterliefen.

Die Vorgeschichte des Wave-Gotik-Treffens reicht bis in die Spätzeit der DDR zurück. Ende der 1980er Jahre bildete sich in Leipzig eine lose Szene junger Leute, die sich, in Anlehnung an die damals im Westen bereits etablierte Wave- und Gothic-Subkultur, schwarz kleideten, die Haare toupierten, Musik von Gruppen wie Depeche Mode oder The Cure hörten. Einen ausführlichen Artikel über den Punk- und Gothic-Untergrund der DDR finden Sie in unserem Sonderheft „Die DDR: Geschichte eines anderen Deutschlands“. HIER bestellen!
„Ianva“ besteht aus insgesamt neun Musikern, und auch im „Volkspalast“ tritt man mit einer größeren Besetzung von insgesamt sechs Musikern auf – manche von Ihnen haben eine klassische Ausbildung genossen, andere kommen aus der Metal-, Elektro- oder der Rock-Szene. Entsprechend genresprengend ist die Musik, man könnte von einem zur Vollendung gebrachten Military-Pop sprechen, der sich aus ausgefeilten Arrangements aus Akustik- und Elektrogitarren, Trommeln, Streichern, Klavier und einem Akkordeon zusammensetzt. Mit der Musik möchte man die ungeteilte italienische Geschichte repräsentieren, es ist der erklärte Wunsch der Gruppe, ihren Hörern etwas „wahrhaft italienisches“ zu vermitteln. In dem 2009 erschienenen Album „Italia: Ultimo Atto“ („Italien: Der letzte Akt“) spannte die Gruppe beispielsweise einen Bogen über die letzten siebzig Jahren der italienischen Geschichte, der weder die „Bleiernen Jahre“ – also die Zeit von Terror und Gegenterror in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – noch die Ermordung der Filmdiva Luisa Ferida durch Partisanen im April 1945 ausließ.
Ianva: Italienische Lässigkeit
Auch in Leipzig verabreichten Ianva ihrem Publikum wieder ihren musikalischen Zaubertrank, der bei den Zuhörern den Taumel auslösen soll, den der große D`Annunzio in den 15 Monaten, in denen er in Fiume residierte, hervorbrachte. Und tatsächlich: Selbst das sonst manchmal eher ein wenig auf Distanz bedachte Neofolk-Publikum feierte Ianva frenetisch und ausgelassen. Wer Zeuge einer solchen musikalischen Eruption wurde, der fragt sich bloß noch eines: Warum kennt eigentlich kaum jemand diese Gruppe? Warum lässt sich der normale mitteleuropäische Radiohörer eigentlich Tag für Tag mit musikalischer Schmalkost abspeisen? Allzu viel Zeit zum Grübeln bleibt beim WGT aber nicht, denn nach den Konzerten ruft die Nacht und in zahlreichen über die ganze Stadt verteilten Clubs wird nun gefeiert. Wer auf der Suche nach einer wahren und ursprünglichen Musik ist, für den ist das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig jedenfalls ein Muss!
Kurt Koriath
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