Slowakei Sezession

Slowakei 1993: Die geglückte Sezession

Vor 31 Jahren wurde die Tschechoslowakei aufgelöst. Damit sind Tschechen und Slowaken bis heute zufrieden.

In Sezessionisten, Regionalisten und Autonomisten ist angeblich eine große Gefahr zu sehen, die nicht nur die Stabilität, sondern sogar den inneren Frieden Europas bedroht – so lautet das Mantra der etablierten Medien und der Politik. Wer in einem bestehenden Staatswesen für die Unabhängigkeit seiner Region oder Teil-Nation eintritt, wird als gefährlicher Störenfried dargestellt, den es zu bekämpfen gilt. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt aber häufig das genaue Gegenteil: Eine Trennung im gegenseitigen Einvernehmen kann für beide beteiligten Parteien besser sein als ein Weiterwursteln im gemeinsamen Staat, obwohl man sich schon längst voneinander entfremdet hat. 

Das tschechoslowakische Kunstgebilde

Das Paradebeispiel einer solchen geglückten Sezession ist die Trennung der Slowakei von Tschechien, die vor gut 30 Jahren am 1. Januar 1993 in Kraft trat – und die heute von beiden Seiten als „glückliche Scheidung“ angesehen wird. Wer die Gründe für die zunehmende Entfremdung zwischen Tschechen und Slowaken sucht, die am Ende zum Bruch führte, der muss tief in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einsteigen. Der tschechoslowakische Staat wurde am Ende des Ersten Weltkriegs am 28. Oktober 1918 als einer der Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie ausgerufen. Entgegen der nationalen tschechischen Rhetorik, die das Selbstbild des neuen Landes prägte, war die Tschechoslowakei ein Altösterreich im kleinen Maßstab mit vielen Minderheiten. Die größte Minderheit waren die Deutschen, die 25 Prozent der Bevölkerung stellten, vor den Slowaken mit knapp 15 Prozent, aber es gab auch eine ungarische, eine ukrainische, eine rumänische, eine kroatische und eine polnische Minderheit. Insbesondere die Deutschen in Böhmen und Mähren wurden in diesen Staat durch die Pariser Vorortverträge regelrecht hineingepresst. Wie befürchtet waren die Deutschen in dem neuen Staat Bürger zweiter Klasse, die beispielsweise in der Verwaltung stark unterrepräsentiert waren. Schnell stellte sich aber heraus, dass auch die Rede von den beiden slawischen „Brüdervölkern“ der Tschechen und Slowaken eine politische Fiktion war, die sich mit der Wirklichkeit nicht deckte. Die kulturellen Prägungen waren doch unterschiedlicher als angenommen. Das lag zum einen daran, dass die Tschechen dem österreichischen Reichsteil der Doppelmonarchie (Cisleithanien) angehört hatte, während die Slowaken in den Ländern der Ungarischen Krone (Transleithanien) gelebt hatten, und zum anderen an der zwar ähnlichen, aber doch unterschiedlichen Sprache. Das System der „Pragokratie“ – also der straffen, zentralistischen und weit überwiegend von Tschechen geführten Verwaltung – führte bald auch im slowakischen Landesteil zu heftigen politischen Gegenreaktionen. 

Der erste slowakische Nationalstaat

Hier wurde schon ab 1925 die autonomistische „Slowakische Volkspartei“ des katholischen Priesters Andrej Hlinka zur stimmenstärksten Kraft. Der tschechoslowakische Einheitsstaat stand also Zeit seines Bestehens unter einer hohen inneren Spannung. Dies war auch der tiefere Grund für sein Scheitern in den 30er Jahren. Die im Zuge des Münchner Abkommens im September 1938 beschlossene Angliederung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich folgte noch dem Völkerrecht, nicht mehr aber der von Hitler ein knappes halbes Jahr später befohlene Einmarsch der Wehrmacht in die „Rest-Tschechei“ und die Annexion dieses Gebiets unter der Bezeichnung „Protektorat Böhmen und Mähren“. Die Slowaken erreichten im März 1939 hingegen erstmals in ihrer jüngeren nationalen Geschichte unter dem Ministerpräsidenten Jozef Tiso die Unabhängigkeit. Die Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg sieben Jahre später besiegelte dann das Schicksal der Sudetendeutschen, die unter oft grausamen Umständen vertrieben wurden. In der Slowakei begann eine blutige Abrechnung mit den Funktionsträgern des slowakischen Staates, der zwischenzeitlich bestanden hatte. Bei den noch relativ freien Wahlen im Mai 1946 fuhr die antikommunistische „Demokratische Partei“ in der Slowakei dennoch einen haushohen Sieg von 62 Prozent ein. Dieses Ergebnis konnte allerdings nichts an der kommunistischen Gleichschaltungspolitik ändern, die der stalinistische Kader Klemens Gottwald betrieb. Sie führte im März 1948 zur Bildung einer kommunistischen Diktatur, die das gescheiterte tschechoslowakische Experiment der Zwischenkriegszeit unter anderen ideologischen Vorzeichen fortführte – nur, dass es jetzt fast gar keine Selbstbestimmungsrechte mehr für die Slowaken und auch die Tschechen gab, die sich beide einer Parteidiktatur beugen mussten. Die Autonomiebewegung in der Slowakei ließ sich jedoch nie ganz unterdrücken und war ein Auslöser des „Prager Frühlings“. Die so bezeichnete Politik der Eigenständigkeit des slowakischen Reformkommunisten Alexander Dubček sah die Umwandlung der Tschechoslowakei in eine Föderation vor, die Pläne konnten aber wegen des Einmarschs der Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 nicht verwirklicht werden. Die Jahrzehnte der kommunistischen Diktatur brachten für den slowakischen Landesteil aber auch eine grundlegende Änderung der Wirtschaftsstruktur, da hier massiv Betriebe der Schwer- und Rüstungsindustrie angesiedelt wurden. Die Friedhofsruhe im Land wurde durch die „Samtene Revolution“ im November und Dezember 1989 beendet, die nicht nur die Einführung eines Mehrparteiensystems, sondern auch die Schaffung einer föderativen slowakischen Republik innerhalb der Tschechoslowakei brachte. 

Showdown in Brünn

Die folgenden drei Jahre zeigten aber, dass dieser Schritt nicht ausreichend war, um die Einheit zu erhalten. Dies lag nicht zuletzt auch an unterschiedlichen Vorstellungen über eine künftige Wirtschaftspolitik in den beiden Landesteilen. Im tschechischen Landesteil setzte der dortige Ministerpräsident Václav Klaus auf marktwirtschaftliche Reformen in Form einer abrupten Schocktherapie, die sein Gegenüber in der Slowakei, Vladimir Meciar, auf keinen Fall mittragen wollte. Der slowakische Ministerpräsident wusste, dass die im Zuge einer kommunistischen Planungspolitik entstandenen Industriekonglomerate, die sein Land prägten, unter den neuen Bedingungen auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren. Im Falle einer sofortigen marktwirtschaftlichen Öffnung, wie Klaus sie anstrebte, befürchtete er eine Massenverarmung seines Volkes. Klaus wiederum machte deutlich, dass es mit ihm auf gar keinen Fall eine Fortsetzung der in der Vergangenheit üblichen hohen Transferzahlungen an die Slowakei geben werde. Diese Antagonismen ließen am Ende keinen Kompromiss innerhalb eines einheitlichen Staates zu. Angesichts der unüberbrückbaren Differenzen einigten sich die Ministerpräsidenten der beiden Teilrepubliken in einem bis heute legendären Treffen in der Villa Tugendhat in Brünn am 26. August 1992 auf die friedliche Teilung des Landes – von Mann zu Mann und ohne nochmals ein Referendum über diese Frage abhalten zu lassen. Beide erklärten später, dass ihnen klar geworden sei, dass die Union mit friedlichen Mitteln nicht zu erhalten sei, dass sie aber ebenso jede Form von Gewaltanwendung ablehnen würden. In rekordverdächtiger Geschwindigkeit einigte man sich bis zum November 1992 auf ein Gesetz zur Aufteilung des Landesvermögens und der Schulden. Das Verfassungsgesetz über die Auflösung des gemeinsamen Staates trat am 1. Januar 1993 um Mitternacht in Kraft und bescherte Europa zwei neue Staaten auf der Landkarte. Das eigentliche „Wunder“ trat dann aber nach der Spaltung ein. In rückblickenden Interviews hat Vladimir Meciar immer wieder erklärt, dass man ihm Ende 1992 prophezeit habe, dass er schon in drei Monaten „auf den Knien“ nach Prag kriechen werde, um die Spaltung zurückzunehmen, da die Slowakei alleine wirtschaftlich nicht überlebensfähig sei. Das Gegenteil trat ein. Die Wirtschaft der Slowakei wuchs im Zeitraum von 1994 bis 2012 um 4,4 Prozent pro Jahr – weit stärker als die Tschechen, die bei dieser Kennziffer nur auf 2,7 Prozent kamen. Die hohe Differenz beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das 1992 in Tschechien um 60 Prozent höher als in der Slowakei lag, hat sich mittlerweile stark angeglichen. Durch die Ansiedlung von Fabriken von Herstellern wie Volkswagen, Kia, Citroen, Jaguar-LandRover und Peugeot wurde die Slowakei zum – umgelegt auf die Einwohnerzahl – „Automobil-Produktions-Weltmeister“. In beiden Ländern ist rückblickend die Zufriedenheit mit der vollzogenen Trennung sehr hoch. Das Beispiel der friedlichen Trennung der Slowaken von den Tschechen zeigt jedenfalls, dass eine Sezession für beide Seiten Vorteile erbringen kann und keineswegs eine wirtschaftliche Schwächung zur Folge haben muss, auch wenn viele Politiker genau das immer wieder behaupten.

■ Arne Schimmer

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